Die Gerte in der Reitkunst – Taktgeber und Balancehilfe

Ein unscheinbares Werkzeug mit großer Wirkung – und warum in der Reitkunst die Gerte aufrecht gehalten wird.

Kaum ein Hilfsmittel in der Reiterei ist so alltäglich – und zugleich so missverstanden – wie die Gerte.
Ob im Reitunterricht, beim Longieren oder in der täglichen Arbeit: Die Gerte ist präsent. Doch ihre Bedeutung, ihr Zweck und vor allem ihre Art der Verwendung haben sich im Laufe der Zeit sehr stark verändert. Im Verständnis der öffentlichen Wahrnehmung ist die Gerte leider auch nur noch ein “Strafinstrument”.

In der Reitkunst der Renaissance oder des Barock war die Gerte allerdings nicht Werkzeug zur Züchtigung oder der physisch invasiven Korrektur – sondern sanftes Instrument der Kommunikation.
Heute dagegen wird sie oft zum verlängerten Arm des Schenkels degradiert – ein schneller Reiz, ein Antriebsmittel, um „mehr vorwärts“ (wobei Steinbrecht mit Vorwärts weder Tempo noch Richtung meinte) zu erzeugen.
Zeit also, einmal genauer hinzusehen, was die Gerte eigentlich war – und was sie unbedingt auch wieder sein sollte.

Die Gerte der alten Meister – Symbol des Anstands und Ersatz des Degens in der Hand

Wer alte Kupferstiche und Gemälde von Reitmeistern wie de la Guérinière, Pluvinel oder Newcastle betrachtet, erkennt sofort:
Die Gerte wurde stets aufrecht gehalten – elegant in der Hand getragen, als Teil der Haltung, nicht als Schlaginstrument.

Der Reitmeister François Robichon de la Guérinière propagierte das Impulsreiten und das descante de mains – das Sinken lassen der Hand – bei Freiheit auf Ehrenwort. Die blanke Kandare wurde einhändig geführt und nur bei Bedarf kurz zum einwirken genutzt. Ebenso die nach oben gehaltene Naturholzgerte.

Die Gerte ist eine Birkenrute, und wird von dem Reiter in der rechten Hand gehalten. Sie darf nicht länger als ungefähr viertehalb Schuhe lang sein, weil, wenn sie länger wäre, würde ihre Mitte an der Schultern des Pferdes anschlagen und nicht ihre Spitze, so wie es vorgesehen ist. Sie gibt dem Reiter, welcher sich ihrer zu bedienen weiß, vielen Anstand, auch stellt sie die Art und Weise vor, wie der Reiter den Degen zu Pferde halten muss.” – de la Guérinière

Die Haltung des Reiters zu Pferde bei Newcastle – mit aufrecht gehaltener Gerte

Diese Gerte war aus Naturholz – geschnitten – meist Birke, Quitte oder Haselnuss, manchmal auch Weide. Sie war Verlängerung der Hand, nicht des Schenkels.

Zur Herstellung einer solchen Naturholzgerte eignen sich die langen geraden frischen Triebe Quitten, Birken, Haselnuss oder Obsthölzern in der Dicke einer klassischen Reitgerte oder Touchiergerte. Zum Trocknen und “Begradigen” kann diese gebündelt z.B. um einen Besenstiel binden und einige Monate stehen lassen.

Eine solche Gerte ist übrigens nicht sehr gut zum strafen geeignet – sie würde leicht zerbrechen.

Baron von Eisenberg mit aufgestellter Gerte – bei einhändig geführter Kandare

Die alten Meister benutzten die Gerte, um:

  • die Aufmerksamkeit des Pferdes zu lenken (oft meist nur durch “Schwingen” in der Luft sogenanntes “Zwitschern” lassen)
  • feinste Impulse an den Körper zu geben – antippen/berühren/touchieren (z. B. an Schulter, Kruppe oder Schenkel),
  • Rhythmus und Takt zu unterstützen – oft durch blosses Zeigen
  • und – vielleicht am wichtigsten – den eigenen Körper aufrecht und präsent und in Balance zu halten.

Die aufrecht getragene Gerte war ein Zeichen von Bewusstsein und Balance – sowohl körperlich als auch geistig.
Sie erinnerte den Reiter daran, selbst ruhig, gesammelt und zentriert zu bleiben.

Wichtig vor allem – Die Gerte kam bei einhändig geführter Zügelführung in der freien Reiterhand zum Einsatz. Damit konnte sie unabhängig vom Zügel getragen und eingesetzt werden – ohne gleichzeitig die Zügel ungewollt einzusetzen und ungewollte Impulse im Pferdemaul zu generieren.

Ferner ist die aufrecht gehaltene Gerte “ausserhalb” des sichtfelds des Pferdes – und das Ins Sichtfeld nehmen – also die Gerte in die Richtung einer möglichen “Hilfengebung” durch “Berühren” – kündigt bereits dem Pferd die Hilfe an – die Ausführung ist bei erfahrenen Pferden dann bereits gar nicht mher nötig.

Desweiteren hilft die aufrecht gehaltene Gerte den Reiterkörper “in Balance” zu halten – da ja nur eine Hand die Zügel hält.

Selbstverständlich gab es auch in der Vergangenheit nicht nur “Romantik” und durchaus auch “Fehlleitungen” und Strafeinsatz der Gerten. Ein Reitmeister der vor allem in der deutschen Übersetzung schlecht wegkommt ist Grisone. Beim Lesen des Gesamtwerks ergibt sich allerdings der Eindruck, dass er lediglich zur Vollkommenheit seines Wissens nicht nur die sanfte Weise seiner Ausbildungsmethoden preisgeben wollte (was den überwiegenden Teil seiner Abhandlung ausmacht) – sondern auch Strafen erwähnen wollte.

Übrigens: Die sehr bekannten grimmigen Figuren der Holzstiche in der deutschen Übersetzung sind allerdings gar nicht von Grisone, bzw. nicht im Originalwerk enthalten, sondern wurden erst später für eine deutsche Übersetzung hinzugefügt/gemogelt:

Die moderne Gerte – vom Taktgeber zum Antreiber

Heute sieht man Reiter aller Sparten, die ihre Gerte permanent über den Oberschenkel nach hinten abwinkeln, oft locker in der Hand oder als Antriebswerkzeug hinter dem Bein einsetzen.
Sie wird benutzt, um das Pferd „reaktiver“ zu machen – ein leichter (manchmal auch fester) Schlag, ein Tippen, ein Klaps.
Der Zweck ist klar: mehr Energie, mehr Reaktion, mehr Vorwärts und Gehorsam! bzw. Strafe bei Misachtung.

und das eben leider viel zu oft – Die Gerte verkommt zum Strafwerkzeug und Folterwerkzeug!

Obwohl selbst die Reitlehre der FN eine klare Meinung zum “Strafen” mit der Gerte hat:

“Jede Reaktion im Sinne einer ‚Strafe‘ nach menschlichem Verständnis ist eindeutig abzulehnen…”

Wie oft sehen wir in den Reitbahnen landauf und landab das Strafen mit der Fieberglasgerte oder mit der kurzen Springgerte – bekannt auch unter dem Begriff “Reitpeitsche”.

Schon die kleinsten bekommen im Reitsportgeschäft eine Fiberglasgerte geschenkt und lernen sie als Strafinstrument einzusetzen – da hilft es auch nicht wenn der Werkzeug rosa mit Strass-Steinen daherkommt.

Diese Gerten verlieren mit der Zeit ihren “Schlag” und Ummantelung. Das offenliegende Fiberglas splittert aber gerne auch – und feinste Fasern könnten das Pferd nicht nur “treffen” sondern auch im Fell stecken bleiben.

Diese Form des Einsatzes hat nichts mehr mit der ursprünglichen Idee der Gerte zu tun.
Die Folge:
Das Pferd reagiert auf Schmerz oder Druck – nicht auf feine Impulse.
Es läuft vielleicht schneller, aber nicht besser.
Die Harmonie zwischen Hand, Schenkel und Gerte – die einst Grundlage der Reitkunst war – ist verlorengegangen. Der Respekt gegenüber dem “Partner” Pferd – dem so viel gerühmten “Happy Athlet” ist dahin. Will man Vertrauen oder Angst vom Pferd erreichen?

Dazu hören wir noch mal ein Zitat des Reitmeisters Pluvinel:

“Auf ein Pferd, das aus Angst gehorcht, ist kein Verlass. Es wird immer etwas geben, vor dem es sich mehr fürchtet als vor dem Reiter. Wenn es aber seinem Reiter vertraut, wird es ihn fragen, was es tun soll, wenn es sich fürchtet.“ Antoine de Pluvinel (1555-1620)

Die Gerte wird leider oft über den Oberschenkel nach hinten getragen – für das Pferd entsteht eine permanent eingesetzte “Drohkulisse” – da die Gerte bei beidhändig eingesetzter Zügelführung genutzt wird – entsteht beim Einsatz der Gerte dazu immer auch ein ungewollter Einsatz des Zügels im Maul des Pferdes. Hat die Gerte einen “Schlag” – z.B. ein Bändchen am Ende – tanzt dieses bei jeder Erschütterung hinten in der Nähe des Rückens, des Bauchs oder der Kruppe.

Ferner hat sich in den Köpfen der Leute das Bildnis des Straf- und Folterwerkzeuges festgesetzt. Wer eine Gerte in die Hand nimmt ist für viele bereits ein Tierquäler.

Die Gerte als feines Kommunikationsmittel

In der klassischen Arbeit – ob an der Hand oder im Sattel – war die Gerte bei vielen der angesehenen Reitmeister aber kein „Antreiber“ oder Strafwerkzeug.
Sie war ein verlängerter Finger, eine Brücke zwischen Reiterhand und Pferdekörper – zum Nutze der Koimmunikation.

Mit ihr kann man:

  • die Schulter “berühren”, um Stellung und Biegung zu unterstützen,
  • den inneren Schenkel andeuten, ohne Druck,
  • die Kruppe leicht ansprechen, um Balance und Aktivität zu verbessern.
  • sich mit seiner Körpersprache breiter machen
  • Raum geben – Raum nehmen – Raum weisen

Das Ziel ist immer Koordination statt Kontrolle, Impuls statt Druck.

Richtig eingesetzt, hilft die Gerte, den Körper des Pferdes bewusster zu koordinieren.
Sie wird zu einem stillen Lehrer:
Sie erinnert an Präzision, Haltung, Timing – und an die Verantwortung, mit minimaler Hilfe maximalen Effekt zu erzielen.

Der Reitmeister Fiaschi – mit Feder als Gerte – mehr dazu weiter unten im Text

Haltung und Symbolik – die Gerte als Spiegel des Reiters

Die Art, wie eine Gerte getragen wird, verrät mehr über den Reiter als jedes Lehrbuch.
Eine aufrecht getragene Gerte ist kein Zufall – sie steht für Bewusstheit, Balance und Präsenz.

In der barocken Reitkunst galt sie als Teil der Attitüde du cavalier – der Haltung des Reiters.
Sie half, das eigene Gleichgewicht zu organisieren und den Körper im Lot zu halten.
Die Gerte war – wie die Zügel – ein Teil des Tanzes zwischen Reiter und Pferd.

Ein Reiter, der seine Gerte achtlos schleifen lässt oder sie als Strafinstrument benutzt, verrät, dass ihm die innere Haltung fehlt, die wahre Reitkunst erfordert: Respekt, Gefühl und Bewusstheit.

Zurück zur wahren Bedeutung

Die Gerte ist kein Mittel der Durchsetzung, sondern der Feinabstimmung.
Kein Taktgeber im Sinne des Vorwärtsdrängens, sondern ein Taktbewahrer im Sinne von Rhythmus, Balance und Harmonie. Der Zeigestock eines Dirigenten.

Wenn wir wieder lernen, die Gerte aufrecht zu tragen – nicht nur äußerlich, sondern innerlich –
dann wird sie wieder das, was sie einmal war:
Ein Zeichen der Reitkunst – und der Achtung vor dem Pferd.

Stich aus La manière de bien emboucher, manier et ferrer les chevaux (1564).

Ein gutes Beispiel für die Bedeutung der Gerte in der Reitkunst gibt uns der Reitmeister Cesare Fiaschi.

Cesare Fiaschi war Edelmann aus Ferrara, einer der berühmten Rittmeister aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und Sohn von Girolamo Fiaschi und Eleonora Sacrati. 

In den Illustrationen seines Werks symbolisiert das Tragen einer Feder anstelle einer Holzgerte die Leichtigkeit an den Hilfen und musikalische Notizen ermöglichen es, den Begriff der Kadenz in den Bewegungen des Pferdes wiederzugeben.

Seine Reitakademie war die erste, in der die Bewegung des Pferdes, insbesondere der Takt der Gangarten, und der Rhythmus der Musik miteinander zu einem Tanz verbunden wurden. Der Ursprung des Reitens als Kunst um der Kunst willen.

Die Tafel, die den zweiten Teil von Cesare Fiaschis Abhandlung einleitet

„Die Gerte soll nicht antreiben – sie soll erinnern.“

So könnte man die Haltung der alten Meister zusammenfassen.
Sie erinnerten das Pferd an das, was es kann – und den Reiter an das, was er sein sollte:
ruhig, gesammelt, fein.